Platon, Virtual Reality und die Erforschung der Cybersickness
Virtuelle Welten mit Risiken und Nebenwirkungen
Das Nachdenken über die möglichen Folgen von Illusion und Wirklichkeit begann wesentlich früher, als man vermutet: Der griechische Philosoph Platon veröffentlichte bereits um 300 v. Chr. das berühmte „Höhlengleichnis“ im siebten Buch seines Dialogs Politeia. Kurz zum Setting des Gleichnisses: In einer unterirdischen und dunklen Höhle sitzen Menschen, die dort von Geburt an gefesselt sind, um immer am selben Platz bleiben zu müssen. Ihr Blick ist starr auf eine Wand gerichtet, hinter ihnen brennt ein Feuer. Dabei kommt es zu einer einfachen Projektion, denn „zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.“ (Platon, Politeia Buch 7, 106a)
Die Höhlenbewohner sehen Abbilder von Menschen und Gegenständen im Licht des Feuers, ohne je an der Oberfläche gewesen zu sein, was laut Platon Erkenntnis- und Gesundheitsrisiken mit sich bringen kann. Die permanente Gaukelei hätte vermutlich eine Reizung der Netzhaut sowie eine große Verblüffung über die farbliche Vielfalt der Außenwelt bei der Rückkehr ans Tageslicht zur Folge. Virtual-Reality-Brillen erzeugen ebenfalls solche Projektionen, nur übersetzt in die aktuelle Informationstechnologie – und dass man sie relativ leicht wieder abnehmen kann. Sie beschränken unser Sichtfeld und eröffnen gleichzeitig den Zugang zu virtuellen Welten, die zum Teil von der Realität ohne Virtual-Reality-Brille nur noch graduell unterscheidbar sind. Das übt einen enormen Reiz aus, birgt aber ebenfalls das Risiko kurzzeitigen Unwohlseins, das wesentlich komplexer zu beschreiben ist als im Höhlengleichnis und daher frühzeitig erkannt werden will. Christian Reuter und Augusto Garcia-Agundez von KOM haben sich in Kooperation mit dem Frankfurter Softwareentwickler Deck13 Interactive sowie Robert Konrad vom Technologieprovider KTX Software mit den gesundheitlichen Auswirkungen der vermehrt privat genutzten Technologie auseinandergesetzt.
Cybersickness – System zur Diagnose entwickelt
Das beforschte Phänomen nennt sich Cybersickness und tritt bei 60% bis 90% der Nutzerinnen und Nutzer beim ersten Abtauchen in die Virtual Reality auf. Das Auftreten hängt bei den getesteten Probanden von vielen Einflüssen ab, beispielsweise mit dem individuellen Gesundheitszustand oder bereits gemachten persönlichen Erfahrungen mit Virtual Reality. Auch die Geschwindigkeit der Bewegung im Spiel, die visuelle Komplexität oder die Trackinggenauigkeit und die Latenz der Hardware spielen eine Rolle. Je nach Person kann sich Cybersickness in einer großen Bandbreite von Faktoren durch „Nausea“ (Übelkeit) „Okulomotor“ (Ermüdung) und „Desorientierung“ (Schwindel) äußern. Ziel der Forschung ist es, ein System zur Verträglichkeitsanalyse einer Virtual-Reality-Anwendung zu entwickeln, dessen Algorithmus mit Hilfe der eingespeisten Daten selbstständig dazulernt. Das System soll engine- bzw. softwareunabhängig mit beliebigen Anwendungen, variabler Hardware und kostengünstiger Sensorik funktionieren. Getestet wurde bis jetzt mit den Engines „Fledge“ von Deck13 und „Unity“ sowie den gängigen Brillen Oculus Rift und HTC Vive. Weitere Vorteile des Systems sind geringe Kosten, leichte Bedienbarkeit und eine sofortige Visualisierung der Testergebnisse, zu deren Interpretation kein Expertenwissen nötig ist.
Die Anwendung meldet Ereignisse im Spiel, beispielsweise Richtung und Geschwindigkeit der Kamera-Bewegung oder das Auftreten von Kollisionen mit der Umgebung in der Darstellung. Gleichzeitig erhebt das System Vitaldaten über eine Sensorik, die am Körper angebracht ist. Dabei integriert und synchronisiert die Analysesoftware beide Datenquellen, um daraus relevante Informationen wie beispielsweise Herzratenvariabilität, Atemfrequenz oder erhöhte Transpiration abzuleiten. So kann durch die Auswertung der Datenkonstellationen eine Meldung über die Wahrscheinlichkeit von Cybersickness generiert werden. Die Wahrscheinlichkeit von Cybersickness ist hoch, wenn sich die virtuelle Bewegung im Spiel und die physische Bewegung des Spielers stark unterscheiden. Dann treten körperliche Signale wie Transpiration, erhöhte Atemfrequenz und verlangsamter Puls auf. Aus diesen Ergebnissen kann die Software im Spiel dazu auffordern, dass sich der Spieler mehr oder weniger bewegt und sich damit der virtuellen Spiellage anpasst, um das Risiko von Cybersickness zu verringern. Die große Hürde des Vorhabens ist die Datenmenge: 84 Sensorkurven werden pro Benutzer über eine reine Spielzeit von sieben bis acht Minuten erfasst, die aus bis zu 1500 Einzelwerten bestehen. Insgesamt wurden 66 Benutzer evaluiert. Die bisherigen Ergebnisse zeigen eine 60-prozentige Genauigkeit der Auswertungen, wobei an einer weiteren Verfeinerung gearbeitet wird. Diese Form Datenanalyse und automatisierte Erkennung von Cybersickness gilt derzeit als wissenschaftliche Pionierarbeit.
Dieses Projekt (HA-Projekt-Nr.: 480/15-22) wird im Rahmen von Hessen ModellProjekte aus Mitteln der LOEWE – Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz, Förderlinie 3: KMU-Verbundvorhaben gefördert.